© NZZ am Sonntag; 02.11.2008
Kriminalität ist im Wesentlichen Männersache: Im Vergleich mit dem anderen Geschlecht sind straffällige Frauen deutlich in der Unterzahl. Doch das Verhältnis ändert sich: Immer mehr Frauen wenden Gewalt an. Jetzt richten Fachleute ihr Augenmerk auf die Frau als Gewalttäterin.

Freitagmorgen im Saal des Kreisgerichts Biel-Nidau: Nach neuntägigem Prozess verkündet Gerichtspräsident Markus Gross sein Urteil: schuldig des Mordes. Er setzt das Strafmass für die 22-jährige Gabi R. auf 18 Jahre Gefängnis fest. Weil sie im März 2007 auf dem Bieler Strandboden gemeinsam mit zwei jungen Männern eine 42-jährige Bekannte, die ihr lästig geworden war, getötet hat. Gabi R. war die Drahtzieherin, die Initiantin des Mordes.

Zwei Tage früher, am Mittwoch, vor dem Zürcher Geschworenengericht: Angeklagt ist eine 31-jährige Mutter. Weil sie ihren kleinen Sohn, er war erst 17 Monate alt, zu Tode würgen wollte. Auch sie wird schuldig gesprochen, wegen versuchter vorsätzlicher Tötung. Über das Strafmass – die Staatsanwaltschaft hatte eine Verwahrung gefordert – wird das Gericht erst später entscheiden, wenn ein zweites psychiatrisches Gutachten vorliegt.

Mehr weibliche Gewalt
Zwei schwere Schuldsprüche gegen Frauen innert einer Woche. Ein Blick in die neuste Kriminalstatistik des Bundes zeigt: Die beiden Täterinnen sind keine Einzelfälle. Allein im Jahr 2007 wurden in der Schweiz 23 Frauen wegen eines versuchten oder vollendeten Tötungsdelikts als Täterinnen ermittelt. Der Vergleich mit der Zahl der tötenden Männer – 2007 wurden 187 Täter überführt – macht zwar deutlich, dass die Kriminalität und insbesondere die Gewalttätigkeit nach wie vor Domänen des männlichen Geschlechts sind. Doch das Verhältnis verändert sich: Die Zahl der gewalttätigen Frauen steigt. Wurden 2002 in der Schweiz 589 Täterinnen wegen Körperverletzung überführt, waren es 2007 schon 1308 (vgl. Grafik). Dies entspricht einer Zunahme um 122 Prozent.

In der gleichen Zeit ist auch die Anzahl der ermittelten Straftäter gewachsen, allerdings nicht im gleichen Ausmass. 2002 waren 12,3 Prozent der wegen Körperverletzung überführten Personen weiblich, 2007 lag der Frauenanteil bereits bei 17,1 Prozent. Bei den Jugendstraftaten und in den Kriminalstatistiken anderer westlicher Länder ist eine ähnliche steigende Tendenz zu beobachten.

Trotz dieser Entwicklung ist die Frauengewalt nach wie vor ein Tabuthema. Die Frau als Gewalttäterin entspricht genauso wenig dem gültigen Rollenbild wie der Mann als Opfer. Auch im Bereich der Wissenschaft und der Forschung hat das Thema bisher nur sehr wenig Beachtung gefunden. Doch nun beginnen die Fachleute, ihr Augenmerk vermehrt auch auf Gewalttäterinnen zu richten. So widmete sich letzte Woche eine Tagung der Kriminologischen Zentralstelle in Wiesbaden ausschliesslich den «Täterinnen» und fokussierte dabei auf jene Bereiche, in denen auch Frauen Taten begehen: häusliche Gewalt, Gewalt gegen ältere Menschen im Pflegebereich, Tötung des Intimpartners, Tötung des eigenen Kindes und gar sexueller Missbrauch von Kindern.

Frauen töten anders
«Auch Frauen sind zu allem fähig», kommentiert Franziska Lamott. Sie arbeitet in der Sektion Forensische Psychotherapie der Universität Ulm und hat im Rahmen einer Studie zahlreiche Interviews mit Frauen geführt, die ihren Partner umgebracht haben. Warum genau die Frauen ihre Männer töteten, blieb ihr dennoch in vielen Fällen verborgen – weil die Täterinnen oft selbst keinen Zugang zu ihren inneren Motiven hätten.

Sicher aber ist: Frauen töten aus anderen Gründen als Männer. «Die Frauen, die töten, wollen sich von ihren Männern trennen – Männer hingegen töten ihre Frauen, weil sie sie nicht gehen lassen wollen», sagt Franziska Lamott. Oft seien es psychische Abhängigkeiten, welche die Frau daran hinderten, einfach die Koffer zu packen. Also greife sie zu anderen Mitteln, werde zur Mörderin. Und: Frauen töten anders als Männer. Während der Mann häufig im Affekt handelt, werden Frauen öfter wegen geplanten Mordes als wegen Totschlags verurteilt. Wegen ihrer körperlichen Unterlegenheit werde die Frau dazu genötigt, den Mann beispielsweise im Schlaf zu überraschen, erklärt Franziska Lamott. Frauen töten nicht reflexartig aus Gegenwehr – sie schreiten in jenen Situationen zur Vergeltung, in denen der Mann geschwächt ist. «Frauen greifen dabei überwiegend zum Messer – die Zeiten des Giftmordes sind eher vorbei», sagt Lamott. Es komme aber auch vor, dass die Frau den eigentlichen Tötungsakt delegiere.

Die Frage, warum die Gewalttätigkeit der Frauen steigt, kann Franziska Lamott nicht schlüssig beantworten. Klar ist für sie, dass die «Männerphantasie», wonach mit der Emanzipation der Frau auch ihre Kriminalität steige, nicht gilt. «Ich bin der Meinung, man muss die These umkehren: Nur wenn die Frauen aggressiv sind, können sie sich auch emanzipieren.»

Statistisch gestiegen ist in den letzten Jahren auch der Anteil jener Frauen, die in ihrer Beziehung Gewalt ausüben – möglicherweise auch darum, weil Männer heute besser zugeben können, Opfer geworden zu sein. «Frauen sind durchaus gewalttätig in ihren Beziehungen», erklärt Barbara Kavemann, Professorin an der Hochschule für Sozialwesen in Berlin. «Frauen schlagen, beissen, treten, werfen mit Gegenständen, schubsen.» Oft sind Gewaltanwendungen in Beziehungen auch wechselseitig: Bald schlägt er, bald schlägt sie. Doch auch hier unterscheidet sich die weibliche von der männlichen Gewalt. Der Frau gehe es – anders als dem Mann – nicht um Macht- oder Kontrollverlust, sondern um Widerstand in der Form von Gewalt. Und vor allem: Die Männer üben eine weitaus verletzendere Gewalt aus als Frauen. So gibt in Deutschland zwar ein Viertel aller Männer an, innerhalb ihrer Beziehung mindestens einmal Gewalt durch ihre Partnerin erfahren zu haben. Doch nur fünf Prozent wurden dabei verletzt. Frauen hingegen tragen oft Verletzungen davon, mitunter auch schwerwiegende.

Kurse für Schlägerinnen
In der Schweiz werden die geschlechterspezifischen Zahlen im Bereich der häuslichen Gewalt nicht in allen Kantonen erhoben. Doch mancherorts wird auf die Erkenntnis, dass auch und immer häufiger Frauen Täterinnen sind, reagiert. Zum Beispiel im Kanton Baselland: Hier stellte die Polizei bei häuslicher Gewalt mit strafbarem Tatbestand innerhalb von drei Jahren eine Zunahme der weiblichen Tatverdächtigen von 15 auf 20 Prozent fest. Letztes Jahr wurde gegen 35 Frauen wegen häuslicher Gewalt ein Strafverfahren eröffnet. Jetzt bietet der Kanton neu einen Kurs für gewalttätige Frauen an, wo sie lernen können, anders mit ihren Aggressionen umzugehen – ein Novum in der Schweiz. Justizdirektorin Sabine Pegoraro hofft, damit das Tabuthema aufzubrechen. Heute werde kaum über Frauengewalt gesprochen, weil sich die Männer schämten, sich als Opfer zu «outen», und die Kinder nicht wüssten, wohin sie sich wenden sollten.

Vor allem auch Kinder sind Opfer weiblicher Gewalt. Durch Vernachlässigung, Misshandlungen oder gar durch Tötung. Wenn eine Mutter ihr eigenes Kind tötet, löst die Tat immer grosses Entsetzen und Unverständnis aus. Doch oft steht hinter einer solchen Tat eine Not der Mutter. Vielfach leiden Täterinnen an psychischen Erkrankungen, an Psychosen oder Wahnvorstellungen, an Depressionen. Manchmal folgt auf die Tötung ein missglückter Suizidversuch. Doch hin und wieder töten Mütter ihre Kinder auch als Rache am Ehemann. Oder weil sie mit sich selbst und mit dem Kind erst recht überfordert sind.

Einen Tag vor Weihnachten, letztes Jahr im zürcherischen Horgen: Die siebenjährigen Zwillinge Céline und Mario werden in ihren Betten erstickt (vgl. Kasten). Unter Tatverdacht steht ihre Mutter. Sie wird sich im kommenden Jahr vor einem Zürcher Gericht verantworten müssen. Ihre Motive liegen völlig im Dunkeln. Auch in ihrem Fall wird das Gutachten des Psychiaters eine grosse Rolle spielen.

 

 

Tötungsdelikte in der Schweiz – begangen von Frauen
cbb

Caroline H.: Sie gilt als die gefährlichste Frau der Schweiz; ihretwegen wurde in der Frauenstrafanstalt Hindelbank (BE) ein Hochsicherheitstrakt gebaut. Caroline H. war 2001 vom Zürcher Obergericht schuldig gesprochen worden, im Sommer 1991 im Zürcher Parkhaus Urania eine 29-jährige Frau niedergestochen und getötet sowie 1996 beim Chinagarten eine 61-jährige Frau umgebracht zu haben. 1998 hatte Caroline H. zudem eine 75-jährige Frau in der Zürcher Altstadt schwer verletzt. Überdies hatte sie mehr als 50 Brände gelegt. Caroline H. wurde zu einer lebenslangen Haft verurteilt und wird in Hindelbank verwahrt. Am Donnerstag wurde bekannt, dass sie aufgrund des revidierten Strafgesetzbuches neu begutachtet wird: Das Obergericht muss aufgrund eines Bundesgerichtsurteils abklären, ob sie anstelle der Verwahrung eine stationäre therapeutische Behandlung antreten kann.

Damaris K.: Die einstige Hausangestellte und zweite Ehefrau des vermögenden Berner Patentanwaltes René K. wurde von allen Instanzen des Mordes an ihrem Gatten schuldig gesprochen. René K. wurde im Mai 1998 während eines gemeinsamen Spaziergangs entlang der Aare von einem Mittäter erschossen. Die Gerichte kamen zum Schluss, dass Damaris K. den Mord an ihrem Mann in Auftrag gegeben und ihn in die Falle gelockt hatte – weil sie sich von ihm trennen wollte, ohne auf die Erbschaft zu verzichten. Damaris K. wurde zu 18 Jahren Zuchthaus verurteilt. Bis heute beteuert sie ihre Unschuld.

Bianca B.: Am 23. Dezember 2007 starben die beiden siebenjährigen Zwillinge Céline und Mario aus Horgen (ZH). Sie wurden in ihren Betten erstickt. Die Polizei inhaftierte zunächst beide Elternteile. Der Vater wurde aber bald wieder freigelassen. Die 34-jährige Mutter hingegen befindet sich noch immer in Untersuchungshaft. Die Gerichtsverhandlung findet nächstes Jahr statt.Cécile B.: Am 1. März 2005 wurde der Bankier Edouard Stern tot in seiner Wohnung in Genf aufgefunden. Er war mit vier Kugeln aus einer Pistole erschossen worden. Zwei davon hatten seinen Kopf getroffen. Seine Leiche steckte in einem Latexanzug. Kurz darauf verhaftete die Polizei die Französin Cécile B.. Sie soll ein sexuelles Verhältnis mit Stern geführt haben und gestand die Tat. Voraussichtlich Anfang nächsten Jahres wird sie sich in Genf vor Gericht verantworten müssen.

Daniela T.: Im Jahr 2000 erschoss Daniela T. in Ueberstorf (FR) ihren 26-jährigen Freund Walter Plüschke. Seine Leiche versuchte sie zu verbrennen, die Überreste vergrub sie bei ihrem Haus. Sie wurde zu 16 Jahren Haft verurteilt. Die Hintergründe der Tat sind unklar. (cbb.)