Barbara Ingenberg und Matthias Hagner

Ratlosigkeit, Selbstzweifel, Scham. Männer schämen sich, wenn sie Gewalt in ihrer Partnerschaft erleben. Männliche Opfer von häuslicher Gewalt sind immer noch ein gesellschaftliches Tabuthema. Den betroffenen Männern ist die Situation meist peinlich. Sie vermeiden es darum m, ihre Gewalterlebnisse zu thematisieren. Sie denken, sie seien Ausnahmefälle und schweigen lieber. Sie fürchten sich vor den abschätzigen Sprüchen ihrer Kollegen und erwarten zu Recht, dass Aussenstehende an ihrer Darstellung der Situation zweifeln werden. Gewalterfahrungen in der Partnerschaft werden auch vor nahe stehenden Bezugspersonen, Angehörigen, Freunden und Kollegen oft über einen langen Zeitraum bagatellisiert oder ganz verschwiegen.„Können Sie sich vorstellen, dass ein Mann Opfer von häuslicher Gewalt wird?“, fragte einer unserer Klienten seinen Berater, bevor er seine Geschichte erzählte. Diese Testfrage hat einen ernst zu nehmenden Hintergrund. Es ist auch heute noch keineswegs eine Selbstverständlichkeit, dass Behörden und Fachpersonen Männer als Opfer von häuslicher Gewalt wahrnehmen und ihnen glauben. Sie passen nicht ins übliche Denkmuster und stellen das Bild von der typischen Täter-Opfer-Rollen-verteilung auf den Kopf. In der Öffentlichkeit treten Frauen und Kinder als Opfer in Erscheinung, während Männer vorwiegend in der Rolle des Täters wahrgenommen werden. Dieser Blickwinkel erfasst aber nicht die gesamte Wirklichkeit.

Genauere Zahlen über männliche Opfer von häuslicher Gewalt sind schwierig zu erhalten. Gesamtschweizerische Angaben sind nicht verfügbar. In der polizeilichen Kriminalstatistik des Schweizer Bundesamtes für Polizei werden keine separaten Zahlen für häusliche Gewalt ausgewiesen (Bundesamt für Polizei 2005)Einzelne Kantone haben nun begonnen, aufgrund der Daten von Polizeieinsätzen bei häuslicher Gewalt eine zusätzliche Statistik zu erstellen. Im Kanton Zürich liegt der Anteil von männlichen Opfern bei rund einem Fünftel (20% im Jahr 2004, 22% im Jahr 2005; Kantonspolizei Zürich, 2005 und 2006).

1 Erfahrungen aus der Beratungspraxis

Die Opferberatungsstelle für gewaltbetroffene Jungen und Männer existiert seit 1996 und ist  auf männliche Opfer von Straftaten spezialisiert. Sie arbeitet auf der Grundlage des schweizerischen Opferhilfegesetztes und ist eine anerkannte Opferhilfe-Beratungsstelle im Kanton Zürich.

1.1 Klienten

Männer haben ein weitaus höheres Risiko, Opfer einer Gewaltstraftat zu werden als Frauen. Aus der schweizerischen Kriminalstatistik (Bundesamt für Polizei 2005) geht hervor, dass die Mehrzahl aller von Gewaltdelikten Betroffenen männlichen Geschlechtes ist. Männer erleben mehrheitlich Gewalt im öffentlichen Raum. Täter sind in diesen Fällen meist andere Männer. Im Jahr 2005 hat die Beratungsstelle insgesamt 437 Fälle bearbeitet, bei denen Männer Opfer von Gewaltdelikten wurden. Drei Viertel unserer Klienten wurden Opfer von Gewaltstraftaten im öffentlichen Umfeld. Rund ein Viertel der Männer, die Kontakt mit uns aufnahmen, wurden Opfer häuslicher Gewalt. Sie erlebten Gewalt in einer Partnerschaft oder in der Familie. Die Männer, die im letzten Jahr aufgrund von Gewalt in der Partnerschaft den Kontakt zu uns suchten, waren zwischen 25 und 69 Jahre alt. Sie lebten mehrheitlich in heterosexuellen Partnerschaften (88%). In 35% der Fälle waren Kinder unmittelbar involviert, als Augenzeugen oder als Mitbetroffene. 12% lebten in homosexuellen Partnerschaften. Die betroffenen Männer kommen aus den unterschiedlichsten Berufsgruppen, vom Handwerker bis zu Universitätsdozenten. Vertreten sind alle gesellschaftlichen Schichten. 

1.2 Erstkontakt

„Ich weiss nicht mehr weiter, darum komme ich zu Ihnen.“ Die Schwelle, eine Beratungsstelle aufzusuchen ist für Männer sehr hoch. Der Anlass für die erste Kontaktaufnahme mit unserer Stelle ist in der Regel eine Krisensituation. Die Männer, die aus eigener Initiative zu uns kommen, realisieren, dass sie sich in einer Situation befinden, aus der sie alleine keinen Ausweg mehr finden. Sie erleben oft seit vielen Jahren Gewalt in ihrer Partnerschaft und haben vergeblich nach einem Ausweg gesucht. Die Mehrzahl der Betroffenen hat bisher keine Anzeige erstattet.Seit dem letzten Jahr beobachten wir aber eine deutliche Zunahme der Anmeldungen von männlichen Opfern häuslicher Gewalt, die durch die Polizei an uns vermittelt wurden. Dies ist eine unmittelbare Auswirkung der Gesetzesänderung im Jahr 2004, durch die Gewalt innerhalb der Partnerschaft als Offizialdelikt erfasst wird. Opfer häuslicher Gewalt (Frauen wie Männer) erhalten nach einer polizeilichen Intervention automatisch die Kontaktadressen der Beratungsstellen.Es gibt Situationen, in denen Opfer und Täter nicht zweifelsfrei zu identifizieren sind. Das trifft insbesondere dann zu, wenn beide Partner Gewalt ausüben. Wenn wir bei einem Klienten überwiegend Täteranteile feststellen, leiten wir ihn nach einem Abklärungsgespräch an eine entsprechende Täterberatungsstelle weiter.

1.3 Formen der Gewalt

Männliche Opfer von häuslicher Gewalt berichten von vielfältigen Formen physischer und psychischer Gewaltanwendung. Das Spektrum umfasst Schlagen, Kratzen, Beissen, Wegstossen, an den Haaren reissen oder mit den Fäusten auf den Körper trommeln. Gegenstände wie Pfannen, Teller oder Stühle werden geworfen, persönliche Dinge werden absichtlich zerstört. Oft kommen Drohungen, Beschimpfungen und Einschüchterungsversuche vor. Die Männer werden kontrolliert oder in Räume eingeschlossen. Wenn Waffen eingesetzt werden, benutzen weibliche Täter meist Messer oder andere Haushaltsgegenstände. In zwei Fällen wurde Gift eingesetzt. In Trennungssituationen ist das Risiko einer Gewalteskalation besonders hoch. Sowohl in homosexuellen als auch in heterosexuellen Beziehungen kommt Stalking vor: Belästigungen zu Hause oder am Arbeitsplatz (durch Telefonanrufe, SMS, Briefe und Mails), Überwachung und Verfolgung sind dafür typisch. Vielfältig sind auch die Drohungen, die ausgesprochen werden. Sie reichen von falschen Anschuldigungen beim Arbeitgeber oder bei der Polizei über Sachbeschädigungen bis hin zur Androhung von physischer Gewalt und Morddrohungen. Teilweise werden auch die neuen PartnerInnen in die Drohungen einbezogen. 

1.4 Umgang mit der Gewalt

Viele Männer, die Gewalt in der Partnerschaft erleben, zeigen ein typisches Opferverhalten. Sie suchen nach Erklärungen und Entschuldigungen für das gewalttätige Verhalten ihrer Partnerin oder ihres Partners. Oft übernehmen sie die Schuld oder Mitverantwortung für die unerwarteten Gewaltausbrüche und denken, sie könnten das Problem lösen, indem sie sich anders verhalten. In der Beratung von männlichen Opfern hören wir typische Sätze, die dokumentieren, wie Männer versuchen, mit der Gewaltsituation umzugehen.„Meine Frau ist depressiv und hat psychische Probleme. Darum schlägt sie.“ Mit solchen Aussagen erklären Männer oft das gewalttätige Verhalten ihrer Partnerin oder ihres Partners. Sie empfinden es als Entlastung, wenn sie diesem Verhalten eine Ursache zuordnen können. Damit entschuldigen sie die Gewalttaten aber auch und nehmen der Täterin/dem Täter die Verantwortung für die Tat ab.„Ich möchte lernen, mich richtig zu verhalten, damit es nicht mehr so weit kommt.“ Oft suchen Männer die Lösung in der Veränderung ihres eigenen Verhaltens. Sie möchten ihrer Partnerin/ihrem Partner keinen Anlass  mehr geben auszurasten. In der Beratungspraxis begegnen wir immer wieder Fachpersonen, die diesen untauglichen Lösungsversuch unterstützen. Untauglich ist er deshalb, weil der/die TäterIn jedes Verhalten des Opfers zum Anlass für neue Gewalthandlungen nehmen kann. Die Illusion des Opfers, das Täterverhalten irgendwann kontrollieren zu können, lässt es die Situation oft jahrelang aushalten. 

1.5 Weshalb bleiben Männer in einer gewalttätigen Beziehung?

„Sie hat die Macht über mich, weil sie weiss, dass ich Angst davor habe, dass alles noch schlimmer wird, wenn ich mich wehre. Und ich möchten meinen Sohn nicht verlieren!“In vielen Beziehungen haben die PartnerInnen Hemmungen, der Gewalt klare Grenzen zu setzen. Die Männer befürchten eine Eskalation der Gewalt oder den Verlust ihrer Familie, wenn sie sich zur Wehr setzen. Ökonomische Faktoren spielen dagegen keine wesentliche Rolle. Von den ökonomischen Voraussetzungen her gesehen, sind Männer häufig in einer stärkeren oder zumindest in einer gleichwertigen Position wie ihre Partnerin oder ihr Partner. Entscheidend sind die emotionale Bindung und Verlustängste. Oft wird der Wunsch geäussert, zusammen mit der Partnerin eine Beratung aufzusuchen. Als Opferberatungsstelle des Kantons Zürich können wir keine TäterInnen- oder Paarberatungen anbieten. In diesen Fällen vermitteln wir die Klienten an andere Stellen.Der mögliche Verlust der Kinder ist für die Männer eine besondere Bedrohung. Diese Ängste sind nicht unberechtigt. Nach der heutigen Rechtssprechung wird das Sorgerecht für die Kinder bei der Trennung in der Regel der Mutter zugesprochen. Wen Männer sich mit rechtlichen Mitteln gegen die Gewalt zur Wehr setzen wollen, drohen Frauen häufig mit dem Entzug der Kinder oder einer Gegenanzeige. Diese Drohungen zeigen Wirkung, da die Männer befürchten, dass ihnen niemand glauben wird. 

2 Geschlechtsspezifische Aspekte in der Beratung

Die Beratung von männlichen Opfern erfordert Wissen über geschlechtsspezifische Unterschiede in der Wahrnehmung, Beurteilung und Verarbeitung von Gewalterfahrungen und eine bewusste Auseinandersetzung mit geschlechtsspezifischen Formen der Kommunikation und unterschiedlichen Wertsystemen. 

2.1 Rollenbilder

„Ein Mann steckt das doch weg.“ Es ist eine alltägliche Beobachtung, dass Jungen mit anderen kämpfen und sich schlagen. Gewalt auszuüben und zu erfahren gehört zur „normalen“ Entwicklung eines Mannes. Jungen lernen einzustecken und ihren Schmerz nicht zu zeigen. Gefühle von Hilflosigkeit, Ohnmacht und Angst gelten als unmännlich und sind für einen „richtigen Mann“ nicht erlaubt. Bei Männern braucht es mehr, bis sie einen körperlichen Angriff als physische Gewalt taxieren, als bei Frauen. Das bedeutet, dass Männer, die häusliche Gewalt in der Partnerschaft erleben, sich selbst häufig nicht als Opfer einer Straftat wahrnehmen. Oft zweifeln sie auch daran, dass ihr Fall „schwerwiegend genug“ ist, um eine Beratung zu rechtfertigen.„Ein richtiger Mann löst seine Probleme selbst.“ Männer haben häufig den Anspruch, ihre Probleme allein zu lösen. Persönliche Probleme einzugestehen bedeutet für sie Inkompetenz und Versagen als Mann. In Krisensituationen neigen Männer eher zum Rückzug und vermeiden es, Beziehungsprobleme mit anderen zu besprechen. Sie sind es weniger gewohnt, im Alltag über Gefühle und Belastungen zu reden. Stattdessen bevorzugen sie aktive Verdrängungsstrategien. Oft stürzen sie sich in die Arbeit oder intensivieren ihre sportlichen Aktivitäten. Das Schweigen und der soziale Rückzug verursachen häufig weitere Probleme.„Männer sind stark und können sich wehren.“ Mann und gleichzeitig Opfer zu sein, ist mit dem Selbstbild als Mann nicht vereinbar (Lenz 2000). Noch schwieriger ist es, als Mann von einer Frau Gewalt zu erleben. Diese Männer sind häufig besonders hilflos. Ihnen fehlt eine adäquate Handlungsstrategie. 

2.2 Reaktionen des Umfeldes

Neben dem eigentlichen Delikt sind die Reaktionen des Umfeldes für Männer eine zusätzliche Belastung und erschweren den offenen Umgang mit den Gewalterfahrungen in der Partnerschaft. Während eine Frau als Opfer von häuslicher Gewalt heute mehrheitlich mit Verständnis, Mitgefühl und Unterstützung von Fachleuten und sozialem Umfeld rechnen kann, sieht die Situation bei Männer häufig anders aus. Sie werden nicht selten belächelt und ihre Angaben werden bezweifelt.„Die Frau wird gute Gründe haben, er wird die Ohrfeigen verdient haben.“ Ähnlich wie es bei Sexualdelikten bis vor wenigen Jahren üblich war, wird dem männlichen Opfer zumindest eine Mitschuld am gewalttätigen Verhalten der Partnerin gegeben.Eine andere, für die betroffenen Männer ebenfalls sehr unangenehme Reaktion der Umgebung sind die spöttischen Bemerkungen, mit denen männliche Opfer von häuslicher Gewalt lächerlich gemacht werden.Männer, die Gewalt in der Partnerschaft erleben und professionelle Hilfe bei Beratungsstellen oder Polizei suchen, stossen auch heute noch auf Probleme. Oft werden ihre Angaben bezweifelt, ihre Glaubwürdigkeit wird in Frage gestellt. Männer, die zu uns in die Beratungsstelle kommen, berichten häufig, sie seien nicht ernst genommen, ausgelacht oder sogar weggeschickt worden. Durch die negativen Reaktionen des privaten und professionellen Umfeldes werden sie ein zweites Mal zum Opfer (Kirchhoff, 2001).Stereotype Denkmuster, Vorurteile (in der Umgebung, aber auch in den eigenen Köpfen) und Ascham erschweren es Männern, die von häuslicher Gewalt betroffen sind, ihre Probleme offen anzusprechen. Es braucht manchmal lange, bis sie sich dazu entschliessen können, Hilfe und Unterstützung zu suchen. 

2.3 Beratungsangebote für männliche Opfer von häuslicher Gewalt

Menschen, die Gewalt erlebt haben, suchen in erster Linie Anerkennung als Opfer, unabhängig vom Geschlecht. Das heisst ,sie brauchen AnsprechpartnerInnen, die ihnen einfach zuhören und ihre Anliegen und Sorgen ernst nehmen. Ausserdem wollen sie Informationen und Beratung, was sie gegen die Gewalt unternehmen können. Bei der Suche nach einer geeigneten Beratungsstelle sind männliche Opfer von häuslicher Gewalt oft unsicher, wohin sie sich mit ihren Problemen wenden sollen. Die bestehenden spezialisierten Beratungsangebote für Opfer häuslicher Gewalt richten sich in der Regel ausschliesslich an Frauen. Sobald eine Straftat vorliegt, sind die anerkannten Opferhilfe-Beratungsstellen zuständig. Solche Beratungsstellen für Opfer von Straftaten stehen in allen Kantonen zur Verfügung. Allerdings richten sich nur wenige explizit (auch) an die Zielgruppe der Männer. Den betroffenen Männern erleichtert es aber die Kontaktaufnahme, wenn sie durch das Beratungsangebot unmittelbar angesprochen werden. 

3 Ausblick

Die Frauenbewegung hat einen entscheidenden Beitrag dazu geleistet, dass Gewalt in der Familie seit einigen Jahren bei Fachleuten und in der Öffentlichkeit zum Thema gemacht wird. Sie hat sich zunächst auf die häufigste Konstellation Mann=Täter und Frau=Opfer konzentriert. Erst nach und nach kamen auch männliche Opfer ins Blickfeld, etwa Knaben als Opfer sexueller Ausbeutung. Dass es so lange gedauert hat, bis Männer als Opfer und Frauen als Täterinnen von Gewalt in Partnerschaften wahrgenommen werden, hängt auch damit zusammen, dass diese Konstellation gegen die tief sitzenden Rollenstereotype verstösst.Noch haben männliche Opfer häuslicher Gewalt keine Lobby und sie sind – ähnlich wie die Täterinnen – bis heute weitgehend unerforscht (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2004). Hier besteht Nachholbedarf. Es braucht mehr Wissen über das Ausmass, die Bedingungen und Ursachen dieser Gewalt sowie über die spezifischen Bedürfnisse bezüglich Intervention und Beratung – auf der Seite der Opfer wie auch der Täterinnen. Fachleute, die mit häuslicher Gewalt konfrontiert werden, müssen sich bewusst machen, dass Männer und Frauen grundsätzlich beide Positionen einnehmen können, sowohl Täter wie Opfer sein können. Wichtig ist, dass männliche und weibliche Opfer nicht gegeneinander ausgespielt werden, sondern dass alle Betroffenen unabhängig von ihrem Geschlecht, möglichst situationsgerecht und wirksam unterstützt werden.