Sonntagszeitung vom 07.09.2008 / von Benjamin Styger
Die Anzahl Frauen, die Männer schlagen, nimmt markant zu

Zürich Plötzlich stürzte sie sich auf ihn. Er fiel zu Boden, zog sich Blessuren zu und Rückenschmerzen, die er nie mehr loswurde. Der 40-jährige J. W.* verstand die Welt nicht mehr. Erst wenige Monate war es her, seit er die 32-jährige Tunesierin geheiratet hatte. Er träumte vom Himmel – und erlebte die Hölle. Drohungen, Beschimpfungen, Schläge. Irgendwann nahm er allen Mut zusammen und erstattete Anzeige.  

Die Frau wurde verurteilt, zu einer Busse von 150 Franken. Zwei Monate später wird das Urteil aufgehoben. Grund: Ein Mann brauche neben Verletzungen zusätzliche Beweise. Heute ist der Taxifahrer ein gebrochener Mann.

J. W. ist kein Einzelfall. Die Anzahl der Frauen, die Männer oder Frauen schlagen, ist in den letzten Jahren markant gestiegen. Das belegen Kriminalstatistiken aus verschiedenen Kantonen im Bereich «Häusliche Gewalt», die der SonntagsZeitung nach Geschlecht der Täter aufgeteilt vorliegen.

In den Kantonen Zürich und St. Gallen hat sich die Anzahl der gegen Frauen eröffneten Verfahren innerhalb von vier Jahren fast verdreifacht. Frauen sind zwar immer noch in 80 Prozent der Fälle Opfer von häuslicher Gewalt. Allerdings ist die Tendenz bei den Täterinnen klar steigend, bei den Tätern vor allem in den letzten Jahren in beiden Kantonen rückläufig.

Rechtsexperten stehen vor einem Rätsel, nicht so die Polizei: Je genauer sie hinschaut, desto höher die Zahl der Täterinnen. Für Fabrizio Ruscelli, Instruktor bei der Polizeischule Ostschweiz und Leiter der Fachstelle «Häusliche Gewalt» der Kapo St. Gallen, ist die Zunahme eine Auswirkung sensiblerer Polizeiarbeit.

«Frauen haben früher einfach eingesteckt»

«Männer hatten lange keine Chance, sich Gehör zu verschaffen, weil man bei der Polizei nicht in Betracht zog, dass ein Mann von einer Frau geschlagen werden und von der Polizei Hilfe brauchen könnte», sagt Ruscelli. Ein Teufelskreis: Wehrt sich ein Mann, wird er angezeigt. Will er Anzeige erstatten, heisst es, er hätte sich doch wehren können.

Die Kapo St. Gallen befragt jeweils beide Parteien und nötigenfalls Drittpersonen. «Uns reicht es nicht, zu hören, wer was sagt. Wir setzen alles daran, ein möglichst objektives Bild der Lage zu erhalten», sagt Ruscelli. Auch in Zürich wurden die Polizeikräfte sensibilisiert und geschult.

«Frauen haben früher einfach eingesteckt. Heutzutage sind sie sich zunehmend ihrer Rechte bewusst – oder sie schlagen auch einmal zurück», sagt Ariane Rufino, ehemalige Koordinatorin der Interventionsstellen gegen häusliche Gewalt und Co-Leiterin der Interventionsstelle in Basel, das ebenfalls mehr Fälle von gewalttätigen Frauen verzeichnete.

Einen anderen Erklärungsansatz für die unterschiedliche Entwicklung bei Frauen und Männern hat Andrea Wechlin, Co-Leiterin des Frauenhauses in Luzern: Durch die Sensibilisierung der Behörden seien auch die Täter vorsichtiger geworden. Das zeige sich auch bei der täglichen Arbeit im Frauenhaus. «Manche Männer wissen ganz genau, wie weit die Misshandlungen gehen dürfen, damit es knapp nicht für eine Anzeige reicht.»

* Name der Redaktion bekannt

 

Kommentar des VeV 

Dieser Artikel beleuchtet Tatsachen, die unseren Betroffenen seit langem klar sind. Häusliche Gewalt ist und war schon immer ein menschliches Problem, kein männliches.
Es gibt Menschen die Gewalt ausüben, Männer wie Frauen. 
Aber in unserer Gesellschaft gibt es eine Gruppe welche den Opferstatus klar für sich reklamiert und das sind die Frauen.
Den Männern wird dieser Status regelmässig verwehrt.
Es wird Zeit, dass auch männliche Opfer als solche wahrgenommen werden und vor weiteren Gewalttaten geschützt werden.
Deshalb fordert der VeV eine Gleichberechtigung der Männer in diesem Punkt und verlangt, dass nebst den rund 26 Frauenhäusern in der Schweiz endlich auch ein Männerhaus entsteht.
Der Kommentar der Frauenhausleiterin aus Luzern am Schluss des Artikels zeigt übrigens, auf welchem Niveau dieses Thema mittlerweile stattfindet. Ganz weit unten, dort wo in einem Artikel über Opfer diese am Schluss doch wieder zu Tätern gemacht werden. Für mich schlicht unglaublich!