NZZ 27. September 2010. Peter Eggenberger
Peter Balscheit – ein Vorkämpfer für das gemeinsame elterliche Sorgerecht
Kommentar dazu von Max Peter, Mediator und Verfechter der angeordneten Mediation

Seit 2000 ist das gemeinsame Sorgerecht als mögliche Nebenfolge der Scheidung im Zivilgesetzbuch vorgesehen. Vorausgesetzt wird ein gemeinsamer Antrag der Eheleute mit einer Vereinbarung über die Betreuungsanteile und die Unterhaltskosten. Zusätzlich wird verlangt, dass das gemeinsame Sorgerecht mit dem Kindeswohl vereinbar ist.

Was halten Sie von diesen Anforderungen? 
Hilflos war die Forderung nach einem Betreuungsplan, denn erstens verlangt das Gesetz keine Minimalbetreuung des zweiten Elternteils, und zweitens ist der Betreuungsplan rechtlich nicht durchsetzbar, weil es keine Sanktionen gegen seine Nichteinhaltung gibt. Sinnvoller wäre es gewesen, statt eines Betreuungsplanes den Tatbeweis, also den Nachweis für gelebte gemeinsame Betreuung nach Aufnahme des Getrenntlebens, zu verlangen.

Das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement arbeitet derzeit einen Gesetzesentwurf aus, in dem das gemeinsame Sorgerecht in Zukunft zum Regelfall bei einer Scheidung werden soll. Welche Bedeutung kommt dieser Änderung Ihrer Meinung nach zu?
Wenn das gemeinsame Sorgerecht die Hürde zum Normalfall schafft, dann ist dies weniger ein Beitrag zur Verminderung von Konflikten zwischen den Eltern als ein wichtiger Schritt, das Bewusstsein zu schärfen, dass die Erziehungsverantwortung beider Eltern nach Auflösung ihrer Paarbeziehung fortdauert. Das gemeinsame Sorgerecht als Regel nach einer Scheidung erschwert es einem Elternteil überdies, sich bequem aus der elterlichen Verantwortung zu schleichen, weil es für die nachträgliche Exklusivzuteilung der Kinder an einen Elternteil immer eines speziellen Änderungsverfahrens bedarf.

Wie kann man denn verhindern, dass das gemeinsame Sorgerecht, wenn es zum Regelfall wird, eine Alibiübung zugunsten der sich bis jetzt benachteiligt fühlenden Väter wird?
Mit rechtlichen Mitteln kann man dieser Gefahr nicht wirksam begegnen. Fairness kann man nicht erzwingen. Das Recht müsste ja mit Sanktionen arbeiten, um Missbräuchen im Umgang mit der elterlichen Sorge zu begegnen. Damit würde einer fruchtbaren und verantwortungsvollen Kooperation der Eltern aber das Fundament entzogen.

In welchen Fällen empfiehlt sich das gemeinsame Sorgerecht nicht?
Wenn beide Eltern dem Gericht einen gemeinsamen Antrag auf Exklusivzuteilung stellen. Wenn im Scheidungsverfahren ein Ehegatte das alleinige Sorgerecht beansprucht, muss der Richter entscheiden. In einem solchen Fall wird sich die das alleinige Sorgerecht beanspruchende Partei vermutlich immer durchsetzen, weil dann vieles dafür spricht, dass die Voraussetzungen für eine erspriessliche Zusammenarbeit der Eltern nicht gegeben sind.

Bei unverheirateten Eltern ist im neuen Gesetz kein gemeinsames Sorgerecht als Regelfall vorgesehen. Wie beurteilen Sie diese Regelung?
Sie steht im Widerspruch zum Prinzip der Gleichbehandlung ehelicher und unehelicher Kinder.

Ist der Übergang vom gemeinsamen Sorgerecht zum alleinigen Sorgerecht oder umgekehrt problematisch?
Wichtig ist, dass das Sorgerecht nach der Scheidung überhaupt geändert werden kann, denn die familiäre Konstellation kann sehr schnell ändern. Bei nachträglichen Verfahren auf Änderung des Sorgerechts mit einem gemeinsamen Antrag der Eltern auf alleiniges Sorgerecht dürften sich keine besonderen Probleme stellen, während im umgekehrten Fall die Gefahr nicht auszuschliessen ist, dass der Begriff des Kindeswohls dafür herhalten muss, das gemeinsame Sorgerecht zu verhindern.

Welche Rolle wird der Anhörung der von einer Scheidung betroffenen Kinder beim gemeinsamen Sorgerecht als Regelfall zukommen?
Seit dem Jahr 2000 ist die Anhörung der Kinder durch den Scheidungsrichter Pflicht. Mit der Wahrnehmung dieser Pflicht steht es aber nicht zum Besten, und das wird sich auch nicht ändern, solange die Richter nicht systematisch von Fachleuten die nötige psychologische Ausbildung erhalten.

Peter Balscheit war von 1970 bis 2001 Präsident der Bezirksgerichte von Sissach und Gelterkinden, von 1982 bis 1987 nebenamtlicher Bundesrichter und von 1988 bis 1992 Präsident der Schweizerischen Richtervereinigung. Seit dem Jahr 2001 ist er als Anwalt und Mediator tätig.

 

Kommentar von Max Peter, Mediator, Bülach 

Es ist sehr zu wünschen, dass die verdienstvollen Vorkämpfer für das gemeinsame Sorgerecht weiterhin und aufmerksam dranbleiben. Noch bedarf es grosser Überzeugungsarbeit, bis der Grundsatz der gemeinsamen und gleichwertigen Erziehungsverantwortung beider Eltern nach Auflösung ihrer Paarbeziehung die Hürde zum Normallfall schafft und im gesellschaftlichen Bewusstsein verankert ist. Erst dann wird auch die  willkürliche und missbräuchliche Verweigerung des gemeinsamen Sorgerechts – und ebenso der Kinderkontakte zum andern Elternteil –  nicht mehr unwidersprochen hingenommen.

Behörden und Gerichte werden dann die heute leider noch verbreitete Ansicht, dass sich die das alleinige Sorgerecht beanspruchende Partei immer durchzusetzen vermag, ernsthaft hinterfragen. Sie werden zerstrittenen Eltern empfehlen oder sie gegebenenfalls dazu verpflichten, professionelle Unterstützung (z. B. Mediation) in Anspruch zu nehmen und zu lernen, trotz Unstimmigkeiten die Interessen ihrer Kinder in den Vordergrund zu rücken und – wenn immer möglich – gemeinsam wahrzunehmen. Der bewusst elternbezogene Ansatz entlastet betroffene Kinder und entlässt sie aus der von ihnen meist selbst übernommenen Mitverantwortung für Scheidungs- bzw. Nachscheidungskonflikte ihrer Eltern. Er stärkt die elterliche Kompetenz und schafft günstige Voraussetzungen für einen respektvolleren Umgang zwischen den Eltern.

 

Vermehrt müssten aufgrund meiner Erfahrungen spezifisch kindbezogene Angebote wie Gruppen für Scheidungskinder geschaffen werden, wo Kinder im geschützten Rahmen allmählich in ihre altersgemässe Kinderrolle zurückfinden und lernen, ihren Wahrnehmungen wieder zu trauen, Wünsche zu äussern, sich über die familiären Veränderungen ein eigenes Bild zu verschaffen sowie die Grenzen ihrer Einflussnahme zu erkennen.

 

Kinderanhörungen

Die Frage der Anhörung von Kindern wird, wie die meisten andern Themen auch, in der Öffentlichkeit und in Fachkreisen kontrovers geführt. Aus Überzeugung schliesse ich mich der Meinung des deutschen Kinderpsychotherapeuten und Erziehungsberaters Dr. Helmuth Figdor an. Er hält Kinderanhörungen und Befragungen von Kindern durch Richter, durch Gutachter und Jugendamtspsychologen, sofern sie nicht in eine Therapie oder in einen langen Kontakt eingebunden sind, für nicht hilfreich und warnt gar vor einer Verschärfung der Problematik bei Kindern. Figdor zieht daraus für sich den Schluss: ‚Meine Position ist allemal, dass es am gescheitesten ist, auf solche Art der Befragungen zu verzichten.(1)

 Verpönte Sanktionen 

Verstösse gegen das Kindeswohl sind keine Kavaliersdelikte. Die Verunsicherung, Scheu oder gar Weigerung mancher Fachleute, Behörden und Gerichte, gegenüber Elternteilen, die dem Kindeswohl zuwiderhandeln Sanktionen anzudrohen, erstaunt. Durch ihre Passivität unterstützen Behörden und Gerichte jenen Elternteil, der mit seiner unkooperativen Strategie dem Kind schweren psychischen Schaden zufügt, hält Remo Largo dazu fest. (2)

Hochstrittige Scheidungseltern befinden sich in einem ‚Ausnahmezustand‘, der es ihnen verunmöglicht, die Interessen und Bedürfnisse ihrer Kinder wahrzunehmen. Dieser Tatsache haben wir uns zu stellen. Largo: ‚Einem unkooperativen Elternteil muss man unmissverständlich klarmachen, dass das Kind Zugang zum anderen Elternteil haben muss. Verweigert ein Elternteil dem anderen das Besuchsrecht, ist das Grund genug, um das Sorgerecht neu zu regeln.‘3 

 

Praxiserfahrungen mit dem Festlegen von Sanktionen bei Nichtbefolgen behördlicher Weisungen widersprechen dem oftmals geltend gemachten Vorbehalt gegenüber solchen Massnahmen. Eltern finden sich nämlich in der Regel durchaus zu einer fruchtbaren und verantwortungsvollen Kooperation mit Fachleuten bereit, wenn Zielsetzung und Vorgehen  für sie transparent und nachvollziehbar sind, wenn sie sich respektiert fühlen, ihnen die Spielregeln für die Zusammenarbeit bekannt sind und sie erleben, dass sie z. B. im Rahmen einer Pflichtmediation bei der Lösungsfindung vorbehaltlos, kompetent und konkret unterstützt werden.

 

Die Kooperationsbereitschaft der Eltern wird zudem weitgehend von den jeweiligen gesellschaftlichen Normen und Werten bestimmt. Gilt es dereinst als völlig normal, dass Kinder nach der Scheidung gemeinsamen umsorgt werden, wird dies auch für die meisten Eltern zur Normalität und damit zur Selbstverständlichkeit werden. Ausnahmen wird es immer geben; das Gesetz soll sich nicht an ihnen orientieren, sondern an der Bedürfnissen und Fähigkeiten der Mehrheit Betroffener, deren Eigenressourcen sie mit angemessenen Massnahmen fördert und stärkt, gegebenenfalls halt auch unter Einbezug verhältnismässiger Sanktionen. 

 

Verstösse gegen das Kindeswohl gehören als solche erkannt und behandelt. Voraussetzung dazu sind ein feines Unrechtbewusstsein sowie die erklärte Bereitschaft aller aktuell und allenfalls später im Rekursfall involvierten VertreterInnen der verschiedenen Professionen, sich bei der Beurteilung konkreter Situationen ausschliesslich an den Kindesinteressen und -rechten zu orientieren und sich zu einem Arbeitsbündnis zusammenzuschliessen.


Es bleibt nocvh viel zu tun, auch für Vorkämpfer. 

(1) Helmuth Figdor, in Ingeborg Schwenzer /Andrea Büchler, "Fünfte Schweizer Familienrechtstage" 28./29. Januar 2010 in Basel, Schriftenreihe zum Familienrecht FAMPRA, Band 15  (2) Beobachter 07/08 4.4.2008 

Max Peter, freischaffender Familienmediator SVM/SDM, Co-Leiter von Gruppen für Scheidungskinder, Fachexperte für hochstrittige Scheidungseltern, Bülach