NZZ 27. September 2010. Peter Eggenberger
Peter Balscheit – ein Vorkämpfer für das gemeinsame elterliche Sorgerecht
Kommentar dazu von Max Peter, Mediator und Verfechter der angeordneten Mediation
Seit 2000 ist das gemeinsame Sorgerecht als mögliche Nebenfolge der Scheidung im Zivilgesetzbuch vorgesehen. Vorausgesetzt wird ein gemeinsamer Antrag der Eheleute mit einer Vereinbarung über die Betreuungsanteile und die Unterhaltskosten. Zusätzlich wird verlangt, dass das gemeinsame Sorgerecht mit dem Kindeswohl vereinbar ist.
Was halten Sie von diesen Anforderungen? Das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement arbeitet derzeit einen Gesetzesentwurf aus, in dem das gemeinsame Sorgerecht in Zukunft zum Regelfall bei einer Scheidung werden soll. Welche Bedeutung kommt dieser Änderung Ihrer Meinung nach zu? Wie kann man denn verhindern, dass das gemeinsame Sorgerecht, wenn es zum Regelfall wird, eine Alibiübung zugunsten der sich bis jetzt benachteiligt fühlenden Väter wird? In welchen Fällen empfiehlt sich das gemeinsame Sorgerecht nicht? Bei unverheirateten Eltern ist im neuen Gesetz kein gemeinsames Sorgerecht als Regelfall vorgesehen. Wie beurteilen Sie diese Regelung? Ist der Übergang vom gemeinsamen Sorgerecht zum alleinigen Sorgerecht oder umgekehrt problematisch? Welche Rolle wird der Anhörung der von einer Scheidung betroffenen Kinder beim gemeinsamen Sorgerecht als Regelfall zukommen? Peter Balscheit war von 1970 bis 2001 Präsident der Bezirksgerichte von Sissach und Gelterkinden, von 1982 bis 1987 nebenamtlicher Bundesrichter und von 1988 bis 1992 Präsident der Schweizerischen Richtervereinigung. Seit dem Jahr 2001 ist er als Anwalt und Mediator tätig.
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Kommentar von Max Peter, Mediator, Bülach Es ist sehr zu wünschen, dass die verdienstvollen Vorkämpfer für das gemeinsame Sorgerecht weiterhin und aufmerksam dranbleiben. Noch bedarf es grosser Überzeugungsarbeit, bis der Grundsatz der gemeinsamen und gleichwertigen Erziehungsverantwortung beider Eltern nach Auflösung ihrer Paarbeziehung die Hürde zum Normallfall schafft und im gesellschaftlichen Bewusstsein verankert ist. Erst dann wird auch die willkürliche und missbräuchliche Verweigerung des gemeinsamen Sorgerechts – und ebenso der Kinderkontakte zum andern Elternteil – nicht mehr unwidersprochen hingenommen. Behörden und Gerichte werden dann die heute leider noch verbreitete Ansicht, dass sich die das alleinige Sorgerecht beanspruchende Partei immer durchzusetzen vermag, ernsthaft hinterfragen. Sie werden zerstrittenen Eltern empfehlen oder sie gegebenenfalls dazu verpflichten, professionelle Unterstützung (z. B. Mediation) in Anspruch zu nehmen und zu lernen, trotz Unstimmigkeiten die Interessen ihrer Kinder in den Vordergrund zu rücken und – wenn immer möglich – gemeinsam wahrzunehmen. Vermehrt müssten aufgrund meiner Erfahrungen spezifisch kindbezogene Angebote wie Gruppen für Scheidungskinder geschaffen werden, wo Kinder im geschützten Rahmen allmählich in ihre altersgemässe Kinderrolle zurückfinden und lernen, ihren Wahrnehmungen wieder zu trauen, Wünsche zu äussern, sich über die familiären Veränderungen ein eigenes Bild zu verschaffen sowie die Grenzen ihrer Einflussnahme zu erkennen. Kinderanhörungen Die Frage der Anhörung von Kindern wird, wie die meisten andern Themen auch, in der Öffentlichkeit und in Fachkreisen kontrovers geführt. Aus Überzeugung schliesse ich mich der Meinung des deutschen Kinderpsychotherapeuten und Erziehungsberaters Dr. Helmuth Figdor an. Er hält Kinderanhörungen und Befragungen von Kindern durch Richter, durch Gutachter und Jugendamtspsychologen, sofern sie nicht in eine Therapie oder in einen langen Kontakt eingebunden sind, für nicht hilfreich und warnt gar vor einer Verschärfung der Problematik bei Kindern. Figdor zieht daraus für sich den Schluss: ‚Meine Position ist allemal, dass es am gescheitesten ist, auf solche Art der Befragungen zu verzichten.(1) Verstösse gegen das Kindeswohl sind keine Kavaliersdelikte. Die Verunsicherung, Scheu oder gar Weigerung mancher Fachleute, Behörden und Gerichte, gegenüber Elternteilen, die dem Kindeswohl zuwiderhandeln Sanktionen anzudrohen, erstaunt. Durch ihre Passivität unterstützen Behörden und Gerichte jenen Elternteil, der mit seiner unkooperativen Strategie dem Kind schweren psychischen Schaden zufügt, hält Remo Largo dazu fest. (2) Hochstrittige Scheidungseltern befinden sich in einem ‚Ausnahmezustand‘, der es ihnen verunmöglicht, die Interessen und Bedürfnisse ihrer Kinder wahrzunehmen. Dieser Tatsache haben wir uns zu stellen. Largo: ‚Einem unkooperativen Elternteil muss man unmissverständlich klarmachen, dass das Kind Zugang zum anderen Elternteil haben muss. Verweigert ein Elternteil dem anderen das Besuchsrecht, ist das Grund genug, um das Sorgerecht neu zu regeln.‘3 Praxiserfahrungen mit dem Festlegen von Sanktionen bei Nichtbefolgen behördlicher Weisungen widersprechen dem oftmals geltend gemachten Vorbehalt gegenüber solchen Massnahmen. Eltern finden sich nämlich in der Regel durchaus zu einer fruchtbaren und verantwortungsvollen Kooperation mit Fachleuten bereit, wenn Zielsetzung und Vorgehen für sie transparent und nachvollziehbar sind, wenn sie sich respektiert fühlen, ihnen die Spielregeln für die Zusammenarbeit bekannt sind und sie erleben, dass sie z. B. im Rahmen einer Pflichtmediation bei der Lösungsfindung vorbehaltlos, kompetent und konkret unterstützt werden. Die Kooperationsbereitschaft der Eltern wird zudem weitgehend von den jeweiligen gesellschaftlichen Normen und Werten bestimmt. Gilt es dereinst als völlig normal, dass Kinder nach der Scheidung gemeinsamen umsorgt werden, wird dies auch für die meisten Eltern zur Normalität und damit zur Selbstverständlichkeit werden. Ausnahmen wird es immer geben; das Gesetz soll sich nicht an ihnen orientieren, sondern an der Bedürfnissen und Fähigkeiten der Mehrheit Betroffener, deren Eigenressourcen sie mit angemessenen Massnahmen fördert und stärkt, gegebenenfalls halt auch unter Einbezug verhältnismässiger Sanktionen. Verstösse gegen das Kindeswohl gehören als solche erkannt und behandelt. Voraussetzung dazu sind ein feines Unrechtbewusstsein sowie die erklärte Bereitschaft aller aktuell und allenfalls später im Rekursfall involvierten VertreterInnen der verschiedenen Professionen, sich bei der Beurteilung konkreter Situationen ausschliesslich an den Kindesinteressen und -rechten zu orientieren und sich zu einem Arbeitsbündnis zusammenzuschliessen.
Es bleibt nocvh viel zu tun, auch für Vorkämpfer. Max Peter, freischaffender Familienmediator SVM/SDM, Co-Leiter von Gruppen für Scheidungskinder, Fachexperte für hochstrittige Scheidungseltern, Bülach
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