Mit seinem Entscheid vom 1. Juni 2010 (5D_171/2009) hat das Bundesgericht dem gemeinsamen Sorgerecht einen schweren Schlag versetzt. Laut diesem Entscheid, soll fortan das gemeinsame Sorgerecht einen Wegzug des obhutsberechtigten Elternteils ins Ausland nicht mehr verhindern können.

Bei alleiniger Obhut ist Wegziehen erlaubt
Beobachter Ausgabe 15/10 vom 23. Juli 2010
von Karin von Flüe

Wird die Obhut über die ­Kinder der Mutter zugeteilt, darf sie auch gegen den Willen des mitsorgeberech­tig­ten Vaters mit den ­Kindern ins Ausland ziehen.

Sie benötigt dafür keine ­Erlaubnis der Behörden und macht sich weder strafbar, noch liegt eine Entführung im Sinne des Haager Übereinkommens vor.

Im konkreten Fall beabsich­tigte eine allein obhuts­berechtigte Mutter, mit den Kindern nach Tschechien zu ziehen. Bezirks- und Oberge­richt entzogen dem Vater das Sorgerecht, weil die Mut­ter nur so ungestraft gegen den Willen des Vaters mit den Kindern wegziehen könne. Die Bundesrichter stellten fest, dass der Entzug des Sor­gerechts aus diesem Grund nicht nötig ist. Das Obhutsrecht als Teil der ­elterlichen Sorge erlaube, über den Auf­enthaltsort der Kinder zu ­be­stimmen. Der Vater als Inhaber der «elterlichen Restsorge» habe gar kein Mitentscheidungsrecht mehr. Er dürfe im Wesentlichen nur noch bei zentralen Fragen der Lebensplanung, etwa Namensgebung, religiöse Erziehung oder ­me­dizinische Eingriffe, ­mitentscheiden, urteilten die höchsten Landesrichter.

Zudem stellte das Bundes­gericht klar, dass ein Weg­­zug ins Ausland auch bei alleini­ger Obhut durch die Be­hör­den verboten werden kann, wenn eine ernsthafte Gefährdung des Kindeswohls droht. Hier war das nicht der Fall.

Bundesgericht, Urteil vom 1. Juni 2010 (5D_171/2009) 

Kommentar des VeV

Mit diesem Urteil stellt sich das Bundesgericht quer zu sämtlichen, heute gültigen Auffassungen, wonach das gemeinsame Sorgerecht eben gerade dazu dienen soll, wichtige Entscheidungen im Leben des Kindes gemeinsam zu fällen.

Gemeinhin werden darunter Entscheide zur Religionszugehörigkeit, zur Namensgebung, zur schulischen Karriere etc verstanden, aber eben auch zum Wohnsitz, zumindest was das Land angeht.

Der Wegzug in ein anderes Land ist tatsächlich ein sehr einschneidendes, und daher auch sehr wichtiges Ereignis im Leben eines Kindes. Es verliert dadurch seine bisherige Umgebung und einen grossen Teil seiner Bezugspersonen und zwar in einer Art und Weise die sehr oft als dauerhaft anzusehen ist.

Die magere Erklärung des Bundesgerichtes, dass dies ja durch angepasste Besuchsrechte kompensiert werden könne, ist ein reines Lippenbekenntnis, hat doch der besuchsberechtigte Elternteil häufig wenig bis keine Chance, eine entsprechende Regelung in einem anderen Land auch wirklich durch zu setzen. Angesichts der Probleme, welche einem bereits hierzulande bei der Durchsetzung eines Kontaktrechtes begegnen können, ist dies auch nicht weiter erstaunlich. Ausserdem muss in jedem Fall damit gerechnet werden, dass das Kind dem in der Schweiz verbleibenden Elternteil nach und nach entfremdet wird, ob mit Absicht oder einfach aufgrund der Umstände spielt dabei keine Rolle.

Das gemeinsame Sorgerecht soll ja gerade dazu dienen, dass beide Elternteile gemeinsam die Verantwortung für ihre Kinder tragen, auch nach einer Trennung oder Scheidung. Mit diesem Entscheid macht das Bundesgericht aber diesen Vorsatz in einem absolut zentralen Punkt zunichte und öffnet damit weiterem Missbrauch Tür und Tor.

Auch wenn gemäss geltendem Recht niemandem ein Verbleib in der unmittelbaren Umgebung vorgeschrieben werden kann, sind wir dennoch der Meinung, dass das Gesetz gerade in diesem Punkt eigentlich verschärft werden müsste. Wir glauben, dass im es zwingend im Interesse des Kindes liegt, den ungehinderten Kontakt zu seinen beiden Elternteilen aufrecht erhalten zu können.

Es zeugt im Übrigen von einer ziemlichen Abgehobenheit, wenn das Gericht glaubt, durch ein im Ausland auszuübendes Besuchsrecht könne der Kontakt zwischen Vater und Kind aufrechterhalten werden. Wer sich kurz konkret vorstellt, was es bedeutet, alle zwei Wochen hunderte von Kilometer zu reisen, für ein paar Stunden Kontakt, der kann sich ausmalen, welche Strapazen Eltern und Kindern dadurch zugemutet werden.

In anderen Ländern wird eine solche Situation relativ elegant dadurch gelöst, dass dem wegzugswilligen Elternteil dies selbstverständlich gestattet wird, bei gleichzeitiger Obhutsumteilung zum hier verbleibenden Elternteil. Vielleicht mag sich das Bundesgericht ja mal zu einem solchen Schritt durchringen – es sollen ja noch Wunder geschehen!