Wenn geschiedene Frauen den Vätern die Kinder grundlos entziehen, schaut der Rechtsstaat oft tatenlos zu. CVP-Nationalrat Reto Wehrli will das ändern und fordert mehr Rechte, aber auch mehr Pflichten. (c) 26.3.2011 Bieler Tagblatt. Von Lotti Teuscher Herr Wehrli, verstehen Sie, dass ich während einer Scheidung auf keinen Fall ein Mann sein möchte?
Reto Wehrli: Ich kann mit dieser Aussage nicht viel anfangen.

Als Frau erhalte ich Kinder und Alimente, allenfalls auch Frauenalimente. Ich kann den Vater fälschlicherweise des Missbrauchs beschuldigen oder ihm die Kinder trotz Besuchsrecht entziehen, ohne dafür belangt zu werden.
Dies ist eine krasse, in den meisten Fällen übertriebene Zuspitzung, hat aber einen wahren Kern. Besonders der Vollzug von gefällten Urteilen scheint ein Problem zu sein. Wenn die Urteile nicht befolgt werden, zum Beispiel wenn das Besuchsrecht nicht gewährt wird, müsste der Rechtsstaat sagen: So, die Kinder werden jetzt sofort dem besuchsberechtigten Elternteil herausgegeben, sonst vollstrecken wir das zwangsweise. Dies passiert leider nicht mehr mit der gewünschten Deutlichkeit.

Weshalb?
Dies ist fast nur psychologisch zu beantworten. Gerade die Richter, ich betone, die Richter und nicht die Richterinnen haben ein teilweise falsches Verständnis aufgebaut. Sie glauben, dass sie mit einer unglaublichen Weichheit an die Sache herangehen müssen. Dies ist ein falsches Verständnis von der Aufgabe eines Richters, der das Recht anwenden und vollziehen muss.

In letzter Zeit werden in den Medien vermehrt Männer thematisiert, denen die Kinder trotz Besuchsrecht von den Müttern entzogen werden. Ist das ein Phänomen, das plötzlich hochgespielt wird?
Dies ist zum Glück bei weitem nicht der Regelfall. Nichtsdestotrotz: Auch wenn es ein kleiner Prozentsatz ist, dürfen wir solche Fälle nicht aus den Augen verlieren. Es geht nicht, dass ein Graubereich entsteht, den wir der Wilkür von irgendwelchen Handelnden überlassen.

Welche Möglichkeiten hätten die Richter, eine Mutter zu zwingen, das Besuchsrecht zu gewähren?
Als ich vor 20 Jahren Gerichtsschreiber war, war es noch üblich, eine Verfügung zu erlassen, in der es hiess: Das Kind wird herausgegeben, sonst kommt die Polizei in Zivil und holt es heraus. Heute schreien alle: Nein, das kann doch nicht sein! Dabei reicht in den meisten Fällen bereits die Androhung. Letztendlich muss sich der Rechtsstaat selber ernstnehmen und das durchsetzen, was er zuvor entschieden hat.

Es heisst, die Kinder würden traumatisiert, wenn das Besuchsrecht von der Polizei durchgesetzt werde.
Solche Eltern sagen: Ich gebe mein Kind nicht heraus, und wenn ihr mir nicht Recht gebt, ist es traumatisiert. Aber es ist jener Elternteil, der dem anderen das Kind verweigert, der die Verantwortung für allfällige schlechte Folgen trägt. Man kann nicht den anderen Elternteil und den Rechtsstaat mit dem Zurückhalten des eigenen Kindes erpressen.

Daran, dass ein Kind traumatisiert wird, wenn es seinen Vater nicht sehen darf, scheint niemand zu denken.
Damit kommen wir wieder in den Normalbereich, denn bislang hatten wir nur den ausserordentlichen Fall diskutiert. Mein Postulat im Nationalrat zielt nicht auf Kindsentführungen oder das Zurückhalten von Kindern ab, sondern auf eine Lösung für die 90 Prozent der Scheidungen, die der Normalfall sind. Ziel meines Postulats ist, dass Kinder zu beiden Eltern eine vollberechtige Beziehung haben dürfen. Beide Eltern sollen ihre Rechte und Pflichten wahrnehmen.

Sie thematisieren jetzt Ihren Kampf für das gemeinsame Sorgerecht und fordern, dass dies der Regelfall wird.
Genau. Dies ist die Grundlage von allem. Man weiss selten so ganz genau, was die Kinder wollen, spricht aber vom Kindswohl; jeder nimmt diesen Begriff für sein eigenes Begehren in Anspruch. Mit Sicherheit sagen kann man doch einzig: Kinder wollen im Regelfall mit beiden Eltern eine intakte Beziehung, die mit Verantwortung wahrgenommen und für die Zeit aufgewendet wird.

Eltern, die das gemeinsame Sorgerecht einvernehmlich vereinbart haben, sind sehr zufrieden damit. Doch wie soll das gemeinsame Sorgerecht funktionieren, wenn die Eltern heillos zerstritten sind und nicht mehr vernünftig miteinander reden?
Ich habe noch nie eine Scheidung erlebt, während der die Eltern gesagt haben: Wir haben ein wunderbares Verhältnis zueinander, aber wir scheiden jetzt wegen der Kinder. Es ist umgekehrt: Die Beziehung zwischen Mann und Frau funktioniert nicht mehr, die Beziehung zu den Kinden funktioniert. Deshalb ist es unnötig, die Kinderfrage überhaupt in den Elternstreit miteinzubeziehen. Vielmehr sollte man davon ausgehen, dass die Beziehung zu den Kindern stabil bleibt. Beide Eltern haben weiterhin unabhängig vom Ehestatus Verantwortung, Rechte und Pflichten.

Welche Rolle übernimmt dabei das Gericht?
Der Gesetzgeber und die Gesellschaft müssen deutlich zum Ausdruck bringen: Ihr Eltern habt eine Verantwortung für die Kinder aufgrund der simplen Tatsache, dass ihr Vater und Mutter seid. Die Gesellschaft muss ein Bewusstsein schaffen mit Adresse an alle Eltern: Ihr werdet die Verantwortung für eure Kinder nicht los. Egal, welchen Zivilstand ihr habt, egal, wo ihr lebt, egal, welchen Beruf ihr ausübt, ihr müsst für eure Kinder sorgen, bis diese 18-jährig sind. Dies wäre eine klare Botschaft und ein kleiner Paradigmenwechsel.

Nehmen wir mal das Beispiel eines Seeländer Paars, das seit Jahren in Trennung lebt und somit das gemeinsame Sorgerecht hat: Die Mutter verweigert jedes Gespräch und dem Vater die Möglichkeit, seine Rechte und Pflichten gegenüber dem Kind wahrzunehmen. Was nun?
Es gibt bereits heute Massnahmen im Vormundschaftsrecht für die gemeinsame elterliche Sorge, die im revidierten Gesetz verfeinert werden müssen. Wenn sich ein Elternteil absolut renitent verhält und ein minimales konstruktives Zusammenwirken mit dem anderen verhindert, dann muss dies Konsequenzen haben.

Die zuständige Vormundschaftsbehörde sagt, ihr seien die Hände gebunden, weil kein Gerichtsurteil zum Besuchsrecht vorliege.
Sie sprechen jetzt von einem Einzelfall, dessen Umstände ich nicht kenne. Grundsätzlich gibt es aber die Möglichkeit, dass die Vormundschaftsbehörde abgestufte Massnahmen ergreifen kann. Sie sollte möglichst früh konstruktiv eingreifen und zu den Eltern sagen: Entschuldigung, ihr habt eine Verantwortung, euer Streit interessiert uns nicht und wir ordnen jetzt zum Beispiel eine Mediation zum Wohl des Kindes an. Und wenn einer von euch nicht mitmacht, muss er mit Konsequenzen rechnen. Doch manchmal sind die Vormundschaftsbehörden etwas zu passiv.

Ihre Motion für das Gemeinsame Sorgerecht war auf gutem Weg. Nun hat Bundesrätin Simonetta Sommaruge – wie es heisst, auf Druck von SP-Frauen – die Motion mit einem zweiten Begehren gekoppelt: Die Unterhaltsbeiträge geschiedener Väter sollten so hoch angesetzt werden, dass diesen weniger als das Existenzminimum bleibt. Warum das?
Dies müssten Sie Frau Sommaruga fragen, ich weiss es nicht. Die beiden Begehren dürfen nicht miteinander verknüpft werden, denn sie haben nichts miteinander zu tun. Unter Bundesrat Blocher und Bundesrätin Widmer-Schlumpf hatten wir sehr gute Vorarbeit geleistet. Das Projekt ging durch die Vernehmlassung, wurde nochmals überarbeitet und wäre jetzt bereit für die Behandlung im Parlament. Die Krux ist, dass Frau Sommaruga mit ihrem Manöver die Behandlung im Parlament verzögert.

Was bezwecken die SP-Frauen?
Im ganzen Parlament hat kaum jemand den Entscheid von Frau Sommaruga verstanden. Es ist der Eindruck entstanden, die Koppelung sei zur Zufriedenstellung von SP-Frauen vorgenommen worden.

Der Verein verantwortungsvoll erziehender Väter und Mütter lässt deshalb Simonetta Sommaruga Pflastersteine schicken; bisher hat sie über 1500 erhalten. Bewirkt das etwas?
Das weiss ich nicht. Aber die Aktion dokumentiert, dass die gemeinsame elterliche Sorge für die Gesellschaft ein sehr ernsthaftes Anliegen ist, das von breitesten Teilen der Bevölkerung und auch von Frauen getragen wird. Seit ich das Postulat 2004 eingereicht habe, ist eine intensive Diskussion entstanden; die Sache ist, salopp gesagt, «gegessen». Einmal pro Monat wird nun am Montag vor dem Bundeshaus Wache mit Fackeln gehalten. Auch dies ist ein Symbol für die Akzeptanz. Es ist wirklich unverständlich, dass Frau Sommaruga nun die Behandlung im Parlament verzögert.

Seit Jahren spielt bei Scheidungen die Frage nach dem Verschulden keine Rolle mehr. Ist das aus Ihrer Sicht als Anwalt gut oder schlecht?
Ich glaube, dass dies im Grundsatz richtig ist. In einer Beziehung, die in den meisten Fällen Jahre gedauert hat, gibt es so komplexe innere Sachverhalte, dass die Schuldfrage kaum geklärt werden kann. Das Bonmot, es brauche immer zwei zum Streiten, hat einen wahren Kern.

Aber es gibt auch Ausnahmen.
In Einzelfällen entsteht der Eindruck, dass es sich ein Partner einfach macht, sich aus der Ehe zu verabschieden. Diese Person folgt einem momentanen Impuls, einem Wunsch oder einer Idee, sagt «ciao» und nimmt möglicherweise auch noch die Kinder mit. Der andere Partner staunt und muss dann auch noch zahlen. Aber eben: Das ist die Ausnahme.

Müsste die Schuldfrage in so krassen Fällen eine Rolle spielen?
Dies frage ich mich auch. Ich glaube, dass es im Extremfall keine befriedigende Lösung gibt. Natürlich könnte man entscheiden, dass es rechtliche Folgen hat, wenn jemand grundlos aus einer Ehe herausläuft. Doch das ist kaum praktikabel, denn der Anwalt wird vor Gericht sagen: Meine Klientschaft hatte Gründe, sie hat schwerste seelische Qualen erlitten. Wie soll man seelische Qualen abklären? Dies ist extrem schwierig.

Würde die Schuldfrage geklärt, könnten Paare ihre schmutzige Wäsche vor Gericht waschen, was eine reinigende und entlastende Wirkung haben könnte.
Dieses Argument verstehe ich, aber glauben Sie mir: Schmutzige Wäsche vor Gericht waschen, und das mit Hilfe von Anwälten, ist denkbar destruktiv. Dampf abgeladen haben die meisten Paare zudem bereits vor der Scheidung. Sie haben einander alle möglichen «Schlötterlig» angehängt. Hilfreich wäre, wenn Scheidungswillige verpflichtet würden, eine Mediation zu machen; also in einen Prozess einzusteigen, wo sie lernen, wieder minimal konstruktiv miteinander umzugehen.

Mediation wird heute als Allheilmittel angepriesen. Was aber, wenn der eine Elternteil gar keine Lösung finden will und zu jedem Vorschlag des anderen einfach nein sagt?
Mediation ist kein Wundermittel, aber ein taugliches Instrument, um in einer grossen Anzahl von Fällen eine Entkrampfung zu erreichen. Wenn ein Elternteil sich krass obstruktiv verhält, wenn er jeden positiven Ansatz verweigert, sollen Rechtsfolgen vorgesehen werden. Dann muss man sagen, dass diese Person nicht geeignet ist, um die gemeinsame Sorge zu praktizieren. Notfalls muss man dieser Person die elterliche Sorge wegnehmen.

Was im Moment nicht der Fall ist.
Ja, aber aus diesem Grund streben wir eine neue Gesetzgebung an. Nochmals: Genau darum ist es dermassen traurig, dass Frau Sommaruga nun die Diskussion blockiert. Die elterliche Sorge ist akzeptiert, aber in einzelnen Fragen müssen wir noch gute Lösungen finden.

Wir haben jetzt lange über zerstrittene Paare geredet. Sie selber sind seit langer Zeit verheiratet und Vater. Kennen Sie das Geheimnis einer guten Ehe?
Wenn es tatsächlich ein Wundermittel für eine gute Ehe gäbe, würde irgendwer ein Geschäft damit machen. Nein, es gibt kein Geheimnis für eine gute Ehe. Es gilt höchstens, was Goethe im Faust sagte: «Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen.»

Was bedeutet dies, übertragen auf ein Paar mit Kindern?
Es ist eine permanente, nie endende Aufgabe, sich selber und sich gemeinsam weiterzuentwickeln, sich immer und immer wieder Mühe zu geben. Dann wird man wunderbar schöne Momente erleben, aber auch schwierige, die man bewältigen und überwinden kann. Welche Aussicht auf ein Lebensglück!