(c) NZZ vom 15. Mai 2011. Von David Signer
Frauenorganisationen wehren sich dagegen, dass das gemeinsames Sorgerecht für Kinder nach einer Scheidung zur Norm wird. Doch ein Spezialist für Familienrecht meint, diese Lösung sei gerechter – und auch Frauen würden damit nur gewinnen

NZZ am Sonntag:
Herr Cantieni, seit Monaten wird darüber diskutiert, ob im Falle einer Scheidung das gemeinsame Sorgerecht für die Kinder als Regelfall eingeführt werden soll. Viele Väter haben das Gefühl, sie würden diskriminiert. Wie stellt sich für Sie als Anwalt und Spezialist für Familienrecht die Problematik dar?

Linus Cantieni:
In der Praxis geht es häufig gar nicht um einen Streit über das Sorgerecht. Wehrt sich eine Mutter gegen das gemeinsame Sorgerecht, so kommt es ja gar nicht mehr in Frage. Das heutige Recht ist diskriminierend. In der Praxis wird bei Scheidungen aber eigentlich mehr über das Geld gestritten. Allerdings haben die Männer auch bei den Finanzen häufig das Gefühl, den Kürzeren zu ziehen. Gerade wenn sie nicht so viel verdienen und bisher im klassischen Rollenmodell gelebt haben, müssen sie der Frau nach der Trennung oft so viel bezahlen, dass ihnen nur noch das Existenzminimum bleibt. Studien zeigen jedoch, dass langfristig gesehen der Mann finanziell häufig besser dasteht als die Frau: Mit zunehmendem Alter der Kinder muss er für die Frau weniger bezahlen, weil sie wieder (mehr) arbeiten gehen muss. Zudem konnte er sich in der Zwischenzeit auf seine Karriere konzentrieren, während sie wegen der Kinder weg vom Fenster war. Die Verlierer sind also meistens die Frauen.

 

Aber das bedeutet doch, dass die Frauen ein vitales Interesse am gemeinsamen Sorgerecht haben müssten.
Richtig. Wie eine neue Nationalfonds-Studie zeigt, ist die soziale Realität in der Schweiz heute aber eine andere: 86 Prozent der Scheidungskinder werden von der Mutter betreut, obwohl mehr als ein Drittel dem gemeinsamen Sorgerecht untersteht. Nur wenigen Familien gelingt es, die Kinder nach einer Scheidung gemeinsam zu betreuen. In Skandinavien ist die gemeinsame Betreuung heute schon viel verbreiteter.

 

Sind Sie für die Einführung des gemeinsamen Sorgerechts als Normalfall?
Ja. Aber das allein wird im Betreuungsalltag nicht viel ändern. Eine gemeinsame Betreuung lässt sich nicht per Gesetz verordnen. Es braucht Rahmenbedingungen, die es Männern leichter machen, Zeit in die Kinderbetreuung zu investieren.

 

Aber in der gegenwärtigen Diskussion geht es doch darum, dass Väter nach der Scheidung zum Wochenend-Daddy degradiert werden.
Genau. Wenn heute die Mutter gegen das gemeinsame Sorgerecht ist, hat der Vater keine Chance, es zu erhalten. Die Mutter muss ihr Nein nicht einmal begründen. Die Gerichte machen es sich mit dieser Regel für den Konfliktfall oftmals zu einfach. Da muss man den Väter-Organisationen recht geben: Das geht nicht an.

 

Wie erklären Sie sich diese schweizerische Rückständigkeit?
Das Stichwort heisst Kindeswohl. Weigert sich eine Mutter, mit dem Vater künftig zusammenzuarbeiten, neigen die Gerichte häufig zur Meinung, dass es unter solchen Umständen nicht im Sinne des Kindeswohls sei, die gemeinsame Betreuung weiterzuführen; dies unbesehen davon,
ob der Vater während des Zusammenlebens eine Hauptbezugsperson für das Kind war. Es ist fragwürdig, ob das immer zum Wohl des Kindes ist.

 

Könnten Sie ein konkretes Beispiel aus Ihrer Anwaltserfahrung geben?
Nehmen wir ein Beispiel aus der jüngeren Generation, wo sich Mutter und Vater die Kinderbetreuung während der Ehe teilten. Sie ist Krankenschwester, und auch er arbeitet in einem Schichtbetrieb, sie konnten sich abwechselnd um das Kind kümmern, ohne Fremdbetreuung. Als es zur Trennung kam, musste der Vater ausziehen. Die Mutter stellte sich konsequent gegen eine geteilte Betreuung wie bis anhin. Der Richter entschied, die momentane Situation beizubehalten: Das Kind blieb bei der Mutter, der Vater sieht es seither an zwei Wochenenden pro Monat und während dreier Wochen in den Ferien pro Jahr. Er ist nun ein Wochenend-Daddy.

 

Warum ist denn in so einem Fall die Frau so erpicht auf das alleinige Sorgerecht? Es läge doch in ihrem eigenen Interesse, dass sich auch der Ex-Mann weiterhin um das Kind kümmert.
Natürlich, es wäre eine Entlastung für sie, längerfristig auch finanziell. Ist die Frau – wie in diesem Fall – gekränkt, weil der Mann sie verlassen hat, rächt sie sich, indem sie das Kind als Waffe gegen ihn einsetzt. Paar- und Elternebene werden miteinander vermischt. Man muss allerdings betonen, dass es auch den umgekehrten Fall gibt, in dem sich die Frau wünschen würde, der Ex-Mann würde sich mehr Zeit für das Kind nehmen. Dieser ist aber eigentlich ganz glücklich mit seinem Single-Dasein, geht bestenfalls am Sonntag mit dem Kind in den Zoo, hat im Übrigen aber keine Lust, sich um Hausaufgaben oder dergleichen zu kümmern.

 

Sind solche Kampfscheidungen wie oben geschildert eigentlich häufig?
Nein, zum Glück nicht. In 9 von 10 Scheidungen einigen sich die Eltern über alle Scheidungsfolgen, auch die Kinder. Der Gang zum Gericht ist dann häufig nur noch reine Formsache. Naturgemäss erscheinen diese Fälle nicht in den Medien.

 

Können Sie ein solches Beispiel schildern?
Ich habe momentan gerade ein Paar in der Beratung, bei dem sich auch der Vater sehr um das Kind gekümmert hat. Beide Eltern leben inzwischen in einer neuen Partnerschaft und haben sich emotional so voneinander gelöst, dass sie vernünftig über die Betreuung des Kindes sprechen können. Sie haben sogar zusammen eine Firma, die sie trotz Scheidung gemeinsam weiterführen werden. Das Kind ist schon etwas grösser und kann selber jederzeit zum Vater gehen, wenn es das will. Weil die Eltern auch nach der Trennung noch immer so gut miteinander reden können, hat man in der Scheidungskonvention darauf verzichtet, das Besuchsrecht detailliert zu regeln. Solche Scheidungsfamilien gibt es zum Glück auch.

 

Vom Gericht definierte Besuchsregelungen haben ja auch etwas sehr Mechanisches und Lebensfernes, oder?
Absolut. Auch weil sich die Bedürfnisse der Eltern und Kinder im Laufe der Jahre ja wandeln. Ein Kind braucht immer weniger Betreuung, möchte vielleicht plötzlich häufiger zum Vater, wenn es älter wird oder umgekehrt am Wochenende lieber zu Freunden als zum Papi. Auch wenn die Eltern neue Beziehungen eingehen, sieht plötzlich vieles anders aus. Juristische Lösungen haben immer etwas Statisches, das gilt für Besuchsregelungen ganz besonders. Das führt in der Praxis dazu, dass in etwa drei Vierteln der Fälle sich die Eltern in gegenseitiger Absprache nicht (mehr) an die Besuchsregelung halten, die bei der Scheidung vor Jahren ausgehandelt wurde.

 

In welche Richtung geht der Trend?
Wir haben eine zunehmende Pluralisierung der Lebensstile mit ganz unterschiedlichen Formen von Mutterschaft und Vaterschaft. Die heutige Generation von Männern engagiert sich immer mehr in der Kinderbetreuung. Die Gesetze und damit auch die Gerichtspraxis sind aber immer noch stark vom klassischen Rollenmodell geprägt. Insofern hinken die Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung hintennach und müssen diesem Wandel besser Rechnung tragen.