Beobachter 17/08 Text: Conny Schmid, Bild: Jupiterimages
Wäre bei Scheidungen ein gemeinsames Sorgerecht besser fürs Kind? Die Elternorganisationen streiten sich. Die Fronten scheinen verhärtet wie bei einer Kampfscheidung.
Wenn Mama und Papa auseinandergehen: Kinder wünschen eigentlich nur eines – dass alles wieder wird wie früher. |
Nicht selten endet, was voll Liebe und Zuversicht begann, im erbitterten Streit: Knapp die Hälfte aller Ehen in der Schweiz werden geschieden. Gibt es gemeinsame Kinder, so muss das Sorgerecht zwingend neu geregelt werden. Meist wird es der Mutter zugesprochen. Bei jeder zehnten Scheidung kommt es zum Kampf ums Sorgerecht. Am Ende bleiben oft nur Verlierer: ein Vater, der bezahlen darf, aber nicht mitreden; eine Mutter, die nicht selten am Rand des Existenzminimums den Alltag allein bestreitet; Kinder, denen ein Elternteil fehlt und die eigentlich nur eines möchten – dass alles wieder wird wie früher (siehe auch Artikel zum Thema: Scheidung: «Es ist schwierig, Kind zu bleiben»).
Seit vor acht Jahren das neue Scheidungsrecht in Kraft trat, ist die gemeinsame elterliche Sorge möglich. Bedingung hierfür ist aber, dass beide Elternteile sich einverstanden erklären. «Weil die Mutter meist damit rechnen kann, im Zweifelsfall das Sorgerecht zu erhalten, besitzt sie de facto ein Vetorecht gegen die gemeinsame Sorge», kritisiert Oliver Hunziker. Der Präsident der Schweizerischen Vereinigung für gemeinsame Elternschaft (Gecobi) fordert, dass in der Schweiz das gemeinsame Sorgerecht als Regel eingeführt wird. Es soll bei einer Trennung automatisch von Gesetzes wegen gelten. Die Idee: Nicht das gemeinsame Sorgerecht sollte bei einer Trennung beantragt werden müssen, sondern das alleinige. «Eltern bleiben Eltern, auch wenn sie getrennte Wege gehen. Die heutige Praxis führt dazu, dass Väter ihre Kinder und Kinder ihre Väter verlieren», argumentiert Hunziker. Das gemeinsame Sorgerecht wäre deshalb vor allem auch zum Wohle des Kindes.
Die Mutter ist Bezugsperson Nummer eins
Gut möglich, dass diese Forderung bald umgesetzt wird. Das Scheidungsrecht steht vor einer weiteren Revision, das Bundesamt für Justiz erarbeitet derzeit einen Gesetzesentwurf, der voraussichtlich im Oktober in die Vernehmlassung geht. Die Sorgerechtsregelung ist dabei einer der zentralen Punkte. Noch ist allerdings nicht klar, ob und in welcher Form ein gemeinsames Sorgerecht als Regelfall aufgenommen wird.
So vehement die eine Seite – vor allem Organisationen geschiedener Väter – das gemeinsame Sorgerecht fordert, so klar lehnt es die andere Seite ab. Anna Hausherr, Zentralsekretärin des Schweizerischen Verbands alleinerziehender Mütter und Väter (SVAMV), bezweifelt, dass eine solche Regelung die Probleme zwischen Geschiedenen löst. «Es ist unbestritten, dass Väter sich vermehrt an der Betreuung ihrer Kinder beteiligen sollen, auch nach der Scheidung. Doch das automatische gemeinsame Sorgerecht ist dafür nicht das richtige Mittel», sagt sie.
Besser wäre es, wenn Paare bei der Geburt des Kindes eine entsprechende Vereinbarung träfen und sich dann bereits auch mit einer allfälligen späteren Trennung auseinandersetzten. Noch immer würden nämlich mehrheitlich traditionelle Familienmodelle gelebt, auch bei geschiedenen Eltern, die das gemeinsame Sorgerecht heute schon ausüben. Will heissen: Die Mutter sorgt für Kinder und Haushalt und geht höchstens einer Teilzeitarbeit nach, der Vater arbeitet Vollzeit. Damit leistet die Mutter einen Grossteil der Kinderbetreuung und teilt das Sorgerecht mit einem Vater, der den Alltag der Kinder kaum kennt. Konflikte sind programmiert.
In einer Befragung getrennt lebender Eltern im Jahr 2003 wünschte sich jede dritte Mutter mit gemeinsamem Sorgerecht im Nachhinein eine andere Regelung. «Wer faktisch die Kinder allein grosszieht, aber dennoch für fast alle den Nachwuchs betreffenden Entscheide das Einverständnis des ehemaligen Partners einholen muss, ist verständlicherweise frustriert», erklärt der Jurist Linus Cantieni, operativer Leiter der Studie. Es sei ein Trugschluss zu glauben, die gleichmässige Verteilung von Elternrechten führe automatisch zu einer besseren Situation für die Kinder. «Es kommt vielmehr auf die tatsächliche Betreuungsleistung der Eltern an.»
Gemeinsames Sorgerecht: in Europa normal
Dies zeigt der Blick ins Ausland. Cantieni hat unter anderem die verschiedenen Sorgerechtsregelungen in Europa verglichen. Meist gilt heute das gemeinsame Sorgerecht als Regelfall. Es gibt aber grosse Unterschiede in der jeweiligen Ausgestaltung. «In einigen Ländern liegen die Entscheidungskompetenzen für Kinderbelange trotz gemeinsamem Sorgerecht mit wenigen Ausnahmen beim hauptbetreuenden Elternteil. Doch es gibt auch Länder, in denen der hauptbetreuende Elternteil die Alltagsangelegenheiten des Kindes zwar allein entscheiden darf, für die restlichen Entscheidungen aber auf die Zustimmung des anderen Elternteils angewiesen ist», erklärt Cantieni. Zur ersten Gruppe gehört etwa England, zur zweiten Deutschland. Das zweite Modell berge deutlich mehr Konfliktpotential. «Derjenige Elternteil, der das Kind nicht hauptsächlich betreut, muss für sehr viele Entscheidungen einbezogen werden. Häufig ist aber unklar, bei welchen Entscheidungen dieser Elternteil mitbestimmen darf. Das führt natürlich auch oft zu Streit unter den ehemaligen Eheleuten.»
Das gemeinsame Sorgerecht ist also nicht automatisch besser für das Kind. «Es gibt keine Studie, die etwa belegen würde, dass die Kinder nur wegen des gemeinsamen Sorgerechts mehr Kontakt haben zum nicht hauptbetreuenden Elternteil. Oder dass sich dessen Zahlungsmoral oder die Kooperationsbereitschaft verbessert», so Cantieni. Verantwortungsbewusstsein, Liebe und Fürsorge lassen sich nicht verordnen.
Trotzdem befürwortet der Jurist die Einführung des gemeinsamen Sorgerechts als Regelfall. Er setzt auf die psychologische Wirkung: Väter sollen sich auch nach einer Scheidung genauso verantwortlich für ihre Kinder fühlen. Zudem sei die heutige Regelung alles andere als befriedigend, weil sie Verlierer und Gewinner schaffe. Besser wäre es, so Cantieni, die Sorgerechtsfrage durch die Einführung der automatischen gemeinsamen Sorge komplett aus dem Scheidungsverfahren auszuklammern, aber die Entscheidungskompetenzen der Eltern in einem klaren Katalog im Gesetz festzuschreiben. Dadurch sollen Konflikte, wer über was entscheiden darf, reduziert werden. Einen entsprechenden Vorschlag hat er bereits eingereicht.
Doch dieser stösst nicht überall auf Gegenliebe. Im Dachverband der Schweizer Familienorganisationen, Pro Familia, will man ihn als Diskussionsbasis nehmen, ist sich aber noch uneins. «Wir werden erst bei der Vernehmlassung Stellung nehmen», sagt Generalsekretärin und CVP-Nationalrätin Lucrezia Meier-Schatz. Sie deutet an, dass das gemeinsame Sorgerecht intern teils auf Fundamentalopposition stösst.
Anna Hausherr vom SVAMV, die zudem Vorstandsmitglied bei Pro Familia ist, findet die relativ weitreichenden Möglichkeiten, gegen Entscheide des anderen Elternteils via Vormundschaftsbehörde vorzugehen, in Cantienis Vorschlag «nicht praktikabel». Es gäbe sehr viele Einsprachemöglichkeiten für den nicht hauptbetreuenden Elternteil, etwa bei einem Wohnsitzwechsel oder wenn ein Kind eine gefährliche Sportart ausüben möchte.
«Verwässerung der Idee»
Gecobi-Präsident Oliver Hunziker auf der anderen Seite empfindet den Katalog von Entscheidungskompetenzen als «Verwässerung der Idee der gemeinsamen elterlichen Sorge». Bei Uneinigkeiten sollte besser Mediation verordnet werden, findet er (siehe auch Nebenartikel «Kampfscheidung: «Eingreifen, wenns emotional wird», oben).
Die Diskussion scheint entlang der bekannten Linien zu verlaufen: Die eine Seite empfindet es als richtig, wenn die Mutter als Hauptbetreuerin der Kinder auch juristisch eine stärkere Position erhält. Die andere fühlt sich benachteiligt, machtlos und möchte zu ihrem Recht kommen. Bleibt zu hoffen, dass das Kindswohl in dieser Debatte am Ende nicht zu kurz kommt.